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Vereine, welche einen
besonders positiven Einfluss auf den sittlichen Charakter des Volkes ausüben,
sind die Sängergesellschaften. Schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
existierte in Speicher eine Sängergesellschaft. Der einzige vorhandene
Singstoff waren die „Lobwasser’schen“
Psalmen und die „Seelenmusik“, ein sehr altes Figuralgesangbuch. Um
1760 zog Johann Heinrich Scherer nach Speicher und versetzte dem Gesangswesen
einen neuen Schwung. Indem er jeden Sonntag die neuen Lieder aus dem
Figuralgesangbuch von Bachofen singen liess, konnte er eine modernere Linie
in das Gesangswesen bringen. Seine Ideen fanden schnell Gehör und nicht
selten wohnten bis gegen hundert Personen seinen Gesangsübungen bei. Da es
ihm in Speicher gut gefiel, kaufte er sich auch in das hiesige Bürgerrecht
ein. Bald schlug er seinen Sängern vor, am letzten Abend des Jahres auswendig
zu singen. Sein Vorschlag wurde aufgenommen und der Jahresschlussgesang wurde
bis zu seinem Tod im Jahre 1796 beibehalten. Sein Sohn Johannes Scherer trat
in die Fusstapfen seines Vaters und setzte in Verbindung mit Johann Heinrich
Tobler die Gesangsübungen fort. Durch die Revolution erlitten diese aber eine
Unterbrechung bis ins Jahr 1802. Scherer stellte sich erneut als Leiter zur
Verfügung und es wurde nun mit neuem Eifer geübt, wobei während einigen
Jahren eine beträchtliche Anzahl Sänger mitmachten. Plötzlich aber fuhr der
Geist der Trennung in die Gesangsliebhaber, denn man wollte nicht nur allein
den Neujahrsgesang von Scherer. Es entwickelte sich eine Rivalität, welche
bis heute noch vorhanden ist. Als Johannes Scherer schon ziemlich alt
geworden war, gab er seine Stelle auf. Sein Mitgehilfe Johann Heinrich
Tobler, der ja von seinem 17. Lebensjahr bis über sein 50. hinaus für Gesang
und Musik in Speicher tätig war, ergriff vorübergehend den Taktstock. Durch die Revolution gerieten die „Bachofen’schen
Lieder“ so ziemlich ausser Mode. Auch Lavater’s „Schweizerlieder“ wurden auf die
Seite gelegt, weil der Geist der Freiheit, der in den Liedern verpackt war,
dem damals unterdrückten Appenzellervolk nicht passte. Es wurde daher neuer
Gesangsstoff gesucht. Vorerst verfiel man auf Egli’s „Lieder der Weisheit und
Tugend“ und auf die „schweizerischen Volkslieder“. Bald wurden diese wieder
durch die beliebten Gesellschaftslieder unseres Johann Heinrich Tobler
verdrängt, welche in den Jahren 1810, 1811, 1812, im Druck erschienen waren.
Sein Fünfzigliederbuch wurde 1829 neu aufgelegt. Beim immer noch bestehenden
Neujahrsgesang führte man Lieder von Schmiedli, Egli, aus dem Zürcher Gesangbuch
und vom Fünfzigliederbuch Tobler’s, auf. Dieser Anlass wurde aber immer
unregelmässiger durchgeführt. Manchmal dirigierte Tobler, manchmal ein
anderer und schlussendlich ging er für lange Zeit ganz ein. Inzwischen trat Pfarrer
Weishaupt in Wald und später in Gais für einen besseren Volksgesang auf. Er
war von der „Nägeli’schen“ Methode überzeugt und brachte sie auch mit
besonderem Geschick unter das Volk. Der in Speicher sesshafte J.J. Waldburger
aus Teufen, der ein Schüler von Weisshaupt war, versuchte diese Methode auch
in unserer Gemeinde einzuführen. Das Unternehmen gelang dermassen gut, dass
er nicht nur für Erwachsene und Jugendliche einen eigenen Kurs durchführen
konnte, sondern auch am Neujahrstag 1829 mit etwa 80 Sängern eine herrliche
Gesangsaufführung geben konnte, wo hauptsächlich die Lieder von Nägeli
benutzt wurden. Tobler war begeistert und sprach: “Herr, nun lässt
du deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben dein Heil
gesehen!“ Aber Tobler freute sich noch zu früh, von der
Direktion zurücktreten zu können. Waldburger, der sich der Theologie
widmete, verliess Speicher nach einiger Zeit. Damit die erfolgreich angefangene
Sache nicht unterging, übernahm Tobler nochmals die Leitung des Gesanges. Die
Aufführung am folgenden Neujahrstag hatte noch den vollen Beifall der Kenner.
Nun aber verschwand auf einmal die Gesangeslust und es gab abermals einen
längeren Unterbruch. Vorsinger Hörler konnte die Sänger wieder zu einer
Aufführung in der Kirche ermuntern, die jedermann Freude bereitete. 1837 wurde abermals für eine Zeit lang die letzte
Übung in der Kirche gehalten. Dann erwachte die Gesangslust wieder und nun
besteht schon seit vielen Jahren wieder ein gemischter Chor unter der Leitung
von Lehrer Sonderegger. Sein Nachfolger, Lehrer Koller, führte den Chor an
verschiedene Anlässe, unter anderem auch an das appenzellische Sängerfest
1848. Für seine Aufführungen in der Kirche erhielt er viel Beifall. Als
Gesangsstoff wurden meistens die Sammlungen von Weishaupt benutzt, aber auch
die „Nägeli’schen“ hielt man in Ehren gehalten. Wie im Dorf gab es auch in
der Schwende und im Bendlehn von Zeit zu Zeit gemischte Chöre. Daneben tauchten wiederholt für kurze Zeit
Männerchöre auf. Zuweilen gab es in Speicher zwei, drei oder vier solcher
Männergesellschaften, von welchen die meisten aber nicht sehr lange
bestanden. Der älteste, jetzt noch existierende Verein dieser Art ist der
Harmonieverein, welcher im Jahr 1836 gegründet wurde. Unsere Gemeinde ist
auch im 1824 gegründeten appenzellischen Sängerverein durch eine grössere
oder kleinere Anzahl Vereine vertreten. Das Sängerfest wurde bereits dreimal
in Speicher durchgeführt, nämlich 1825, 1838 und 1848. Das Gesangswesen in Speicher
war über längere Zeit sehr zersplittert. In der neusten Zeit wurde nun
von allen Seiten versucht, den Neujahrsgesang wieder einzuführen. Ratsherr
Koller aus der Steinegg, veranstaltete zu diesem Zweck eine eigene Sammlung
älterer und neuerer beliebter geistlicher Lieder. Er machte zusammen mit dem
Vorsänger, einem Lehrer und einem weiteren Gesangsfreund, Auszüge aus den
Gesangsbüchern von Bachofen, Schmiedli, dem Fünfzigliederbuch, den
Chorliedern von Nägeli und den Sammlungen von Pfr. Weishaupt und liess sie
auf eigene Rechnung drucken. Zirka 80 Sänger aus allen Schichten, vom
Jünglings- bis Greisenalter, nahmen teil und hielten am Sylvesterabend 1850
in der sehr schön erleuchteten Kirche ein Konzert, welches grossen Beifall
erhielt. Diese Gesänge riefen
besonders bei den älteren Leuten Gefühle hervor, weil sie sich durch die
älteren Lieder in ihre Jugendzeit versetzt fühlten. Am anschliessenden Neujahrsabend
wurde ein gemeinschaftliches Abendessen gehalten, wo Jung und Alt, Reich und
Arm, Vorsteher und Bürger, im buntesten Gemisch untereinander sassen und mit
Gesängen und Reden den Abend aufs Angenehmste verbrachten. Dieses
Fest wurde in den folgenden Jahren wiederholt. Wir hoffen, dass diese schöne Sitte, den Jahreswechsel gemeinsam zu
feiern, uns stets jung erhalte. |