Sittenstand

 

Sittlicher Zustand

 

Der Volkscharakter der Appenzeller hat durch das verbesserte Schulwesen, aber auch durch den häufigeren Verkehr mit Fremden mancherlei Rohes abgestreift. Es gab Zeiten, wo der Jüngling seine Geliebte in einer anderen Gemeinde nicht ohne handfeste Auseinandersetzungen besuchen konnte. Er musste einen Most- oder Weinkrug als Verteidigungswaffe mittragen, wenn er sich schützen wollte. Wenn die männliche Jugend von Trogen und Speicher zusammentraf, gab es Streit und kein Speicherer Jüngling konnte sich in Trogen und der Trogener in Speicher ohne gehörigen Schutz ganz sicher fühlen. Diese Zeiten sind zum Glück vorüber.

Beide Gemeinden leben nun verträglich nebeneinander, was umso erwünschter ist, da sich beide Ortschaften durch ihre erweiterte Bautätigkeit immer mehr nähern und nach und nach in ein grosses Dorf zusammenwachsen. Wir legen indessen auf diese vereinzelten Äusserlichkeiten keinen allzu grossen Wert. Denn, wenn auch manch rohe Ausbrüche nie mehr wiederkehren und der sittliche Charakter einer Gemeinde durch das Abschleifen und Ausglätten an Rohheit verlor, gilt auch hier das Sprichwort: „ Es ist nicht alles Gold was glänzt“, wie auch nicht alles glänzt, was Gold ist. Von der Verfeinerung der äusserlichen Sitte bis hin zur wahren Geistesbildung und Herzensveredlung ist ein langer Weg, der nur durch viele kleine anstrengende Schritte und grossen Willen begangen werden kann. Mit einer solchen Verfeinerung gewinnt man nicht gar viel, denn die rauen Sitten werden höchsten durch etwas verfeinerte ersetzt, welche sich, um das Gleichnis eines achtenswerten Zeitgenossen zu gebrauchen, ungefähr wie Morgensterne und Hellebarden gegenüber Schusswaffen und Kanonen verhalten. Wir wollen diesen Vergleich aber nicht so streng ziehen und auch nicht so genau in die Details eingehen, aber eine unparteiische Beobachtung und ein abgewogenes Urteil über das, was man verfeinerte Sitte nennt, kann nicht schaden. Es gibt so manch Schlimmes, was in der neueren Zeit im Vergleich mit den früheren Zeiten immer stärker zu werden droht. Oft tritt an die Stelle eines früheren, treuherzigen Biedersinnes, der Sitteneinfalt, Genügsamkeit und des Sinnes fürs häusliche Leben eine Unzuverlässigkeit und Falschheit, Mode- und Flittertorheit, Vergnügungssucht und Üppigkeit, das Wirtshausleben und auch das Alles verderbliche Spiel. Diese schlimmen Sachen werden dermassen gelobt, dass man sofort merkt, dass sich die Freunde dieser und ähnlicher Errungenschaften für die wahren Gebildeten halten. Wer nicht zur mitlaufenden Masse zählt, hat in ihren Augen die erste Sprosse der feineren Gesittung noch nicht erstiegen. Seine Quelle liegt in der leidenschaftlichen Begierde nach zeitlichem Gewinn, Besitz, Genuss, Luxus und auch in einer Hand in Hand gehenden Kälte, ja sogar Abneigung gegen das heilige, göttliche und christlich religiöse Leben.

So gibt es auch bei uns vielfältige Störungen des ehelichen Friedens mit häuslichen Zwistigkeiten, die mit den Ehescheidungen und Unzuchtsfällen leider noch immer im Zunehmen begriffen sind. Die bisherige Kinderzucht scheint man langsam zu vergessen, indem die Eltern ihre Kinder oft unvorsichtig rühmen und törichte Einfälle und Streiche belächeln. Indem sie die Kinder durch Belohnung zum Guten anzuspornen versuchen und ihnen dafür auch noch Taschengeld geben, wird nur die Naschhaftigkeit und anderes gefördert. Vielfach wird auch die Mahnung des Herrn: “Bete und arbeite!“ so einseitig aufgefasst, dass ihre ganze Erziehung nur in der Gewöhnung an eine egoistische Lebens - und Arbeitsweise besteht. Mit der Einimpfung des Grundsatzes: „Erwerb und Genuss sei das höchste im Leben“ wird sich eine solche Erziehung dadurch rächen, dass die Kinder, sobald sie selbstständig genug sind, ihre Eltern verlassen.

Die vom Altertum herstammenden Stubeten, die nun nicht mehr überwacht werden und verboten sind, haben sich zu Winkelstubeten gewandelt, verleiten viele Junge zum frühen Heiraten, wobei manche der Hauswirtschaft noch nicht gewachsen sind und deshalb nicht nur leicht in Armut geraten können, sondern auch bald verwelken. Durch das Wirtshausleben, Speicher zählte 1846  26 Wirte, wurden oft falsche Wege eingeschlagen. Der Rausch der Liebe und die Schwärmerei verleitete sogar die weibliche Jugend zum Kiltgang. Der flüchtige Jüngling und das mutwillige Mädchen wurden oft wider Erwarten gute Hausväter und Hausmütter. Mit dem Mannesalter nehmen die Sorgen nach genügender Ernährung zu, aber auch das rastlose Streben nach Reichtum und einen bequemen Lebensunterhalt fordern alle körperlichen und seelischen Kräfte. Zwar unterdrückt man dabei viele Laster und Leidenschaften, aber auch manchen Keim des Guten. Immerhin vermag der nicht immer positive Handelsgeist den gemeinnützigen und wohltätigen Sinn nicht zu untergraben.

Wer mehr über den Charakter, die Volksspiele, Volksfeste und kirchlichen Feierlichkeiten lesen will, verweisen wir auf Dr. Gabriel Rüsch’s Aussagen zum „Gemälde der Schweiz“.  Wir erlauben uns noch, speziell über die sogenannte Almenwegstubeten und den Jahrmarkt zu berichten, weil beide unsere Gemeinde mehr und weniger speziell betreffen und wollen eine früher hier übliche Hochzeitsfeier beschreiben.