Sektiererische Bewegungen

 

Wenn wir von den kirchlichen Angelegenheiten unseres  Landes und unserer Gemeinde reden, so dürfen wir die pietistischen Bewegungen nicht vergessen. Der Ursprung der Sektiererei liegt schon lange zurück, denn schon bei der Alleinherrschaft der katholischen Kirche, die mit Gewalt jeden aufkeimenden Funken von abweichenden religiösen Ansichten zu unterdrücken versuchte, gab es einzelne, aber auch ganze Gemeinden, welche sich von der herrschenden Kirche lossagten. Die jetzt noch existierenden Waldenser sind ein gutes Beispiel dafür.

Als die Reformatoren Anspruch auf die geistliche Freiheit erhoben und damit siegten, beanspruchten auch andere das Recht dazu. Seither konnte man eine grössere Zahl von Sekten aufstehen und sterben sehen, welche wohl meist wenig Aufsehen erregt hätten, wenn nicht die Nachfolger der Reformatoren die Geistesfreiheit zu ihrem eigenen Monopol gemacht hätten. Genau mit der gleichen Intoleranz, die sie der katholischen Kirche vorwarfen, eiferten sie gegen alle, die sich weigerten, ihre konfessionellen Glaubensformeln als den allein selig machenden Glauben anzuerkennen. Diese Versuche, den Glauben in bestimmte Formen zu zwängen und die daraus entstandenen Streitigkeiten der Theologen, welche das Volk mit theologischen Streitfragen plagten, anstatt mit ihren Predigten zu erbauen, riefen den Pietismus hervor.

Schon der 1555 geborene Johann Arndt  arbeitete mit seinem jetzt noch von vielen hoch geschätzten Buch vom „Wahren Christentum“, entgegen der damals dürftigen Schulweisheit auf die Erfüllung eines christlichen Lebens hin. Nach seinem Tod im Jahr 1621 trat 100 Jahre später der 1635 geborene Philipp Jakob Spenner noch stärker gegen das Schriftgelehrten - Unwesen auf. Er versuchte, durch Katechismuslehren auf Alt und Jung einzuwirken und hielt neben dem Gottesdienst auch Andachtsversammlungen in seinem Haus. Er war überzeugt, dass man sich in einer solchen Umgebung herzlicher und freier seine Zweifel, Lebenserfahrungen und Tröstungen mitteilen konnte. Als deswegen übles Gerede entstand, hielt er die Versammlungen ebenfalls in der Kirche ab. Er drängte die Gläubigen zu gemeinschaftlichen Bibellesungen und wies sie darauf hin, dass nicht bloss der Pfarrer, sondern jedermann zur allgemeinen Erbauung beitragen könne. Er schärfte ihnen auch ein, der Wahrheit nachzuleben, denn nach seiner Meinung genügte für das Christentum nicht allein das blosse Wissen, vielmehr aber ihre Ausübung. Im Weiteren legte er ihnen die Notwendigkeit erbaulicher Predigten dar, die in der Auslegung biblischer Abschnitte bestehen sollten, statt aus einem Gepolter streitiger Lehrmeinungen. Zum Schluss forderte er, dass man die Ungläubigen und Falschgläubigen belehren und für sie beten müsse, statt gegen sie eifern sollte.

„Aber“ fragte Thiele, „das ist das Leben des guten Geistes auf Erden, wo er ein gutes Werk ins Leben ruft, da hängt sich der böse Geist daran und verkümmert es“.

 

Bereits zu Arndts Zeiten gefiel sich Jakob Böhme, Schuster aus Görlitz in Sachsen damit, am dürren Formenglauben zu rütteln. Er glaubte, dass es besser wäre, sich in die Geheimnisse Gottes zu vertiefen und in selbst nicht verstandenen Bildern über das zu reden, was er innerlich erschauen könne, als sich dem Evangelium einfach hinzugeben. Die Idee Spenner’s , dass auch Laien zu Erklärungen der Bibel fähig seien, war ja gut gemeint, aber sie führte neben der Belebung der Sinne für die Religion auch zu verdrehten Auslegungen der Bibel und mitunter selbst zu ärgerlichen Verirrungen. Diese Ideen mit ihren guten und schlechten Seiten drangen auch in unseren Kanton ein und unsere Gemeinde blieb davon auch nicht verschont. Während Arndts Buch vom „wahren Christentum“ neben der Bibel als Buch der Erbauung in den häuslichen Gottesdiensten christlicher Familien reichen Segen stiftete, verursachten die Versammlungen der Pietisten, in welchen auch Schriften Böhmes gelesen wurden, Unruhe. Man nannte sie auch „Frömmler“, weil sie sich äusserlich als Fromme zeigen wollten und sich an alle heranmachten, welche für einen gelebten Glauben eintraten. Die Grundsätze der Pietisten Spenner, welcher 1705 gestorben war und Tenhard, der im Sinne Spenner’s lehrte, wurden hauptsächlich durch Pfarrer Laurenz Scheuss aus Heiden und Kandidat Ungemuth aus Teufen in unser Land verbreitet. Der über den ungemein starken Besuch seiner Predigten bei anderen Geistlichen hervorgerufene Neid war der Grund, dass Scheuss 1711 zurücktreten und das Land verlassen musste. Auch in Teufen wurden die Pietisten verfolgt und an einer hitzigen Kirchhöre wurde Ungemuth abgesetzt und am 17. Januar 1714 des Landes verwiesen. In Speicher, wohin sich von Teufen her die pietistische Bewegung ausgebreitet hatte, wurde der Hauptmann vom Volk damit bedroht, „wenn er nicht sogleich Ordnung schaffe, müsste man am folgenden Sonntag ebenfalls eine Kirchhöre halten und ihn seines Amtes entheben und dabei alle Sektierer totschlagen“.

 

Zwei Jahre später wurde der Sektierer, Meister Grunholzer aus Speicher, vom Grossen Rat mit einer Busse von 40 Batzen bestraft, weil er mit anderen ein sonderbares Abendmahl in Privathäusern gehalten hatte, was den normalen Kirchengebräuchen zuwiderlief. Am hitzigsten war aber der so genannte „Nachtlehrhandel“ im Jahr 1724, worauf Hauptmann Baumgartner einen Vorwurf an die Kirchhöre machte. Es entstand in der Folge ein heftiger Wortstreit, bei dem sich die angeführten Bürger vergassen und den Hauptmann beschimpften:

 

1.

Johannes Krüsi, der am 24. Februar 1724 „von einem ehrsamen Grossen Landrat“ wegen seiner an und ausserhalb der genannten Kirchhöre begangenen „Sachen und Unfugen“ mit 15 Batzen in den Landseckel gebüsst wurde. Der Rat verfügte weiter, dass ihre gegenseitigen Beschimpfungen aufhören müssten, alles gesagte null und nichtig sei und beide in ihren Ehren geschützt und geschirmt seien. Beide Streithähne müssten deshalb die Unkosten gemeinsam tragen. Da aber Krüsi dem Urteil widersprach, wurde er zwar auf seine Bitte hin für diese Ablehnung nicht bestraft, hingegen wurde ihm angedroht, bei der nächsten Verfehlung würde man Neues und Altes zusammen nehmen.

2.

Johannes Schefer, der mit 5 Batzen in den Landseckel gebüsst wurde und zudem den Hauptmann satisfaktionieren musste, indem er ihm hinter dem Schranken des Gerichtes Abbitte leiste und ihm 5 Gulden für die Beschimpfung zahle.

3.

Johannes Frehner musste nicht nur dem Hauptmann Satisfaktion geben und Abbitte leisten, er musste ihm für die Beschimpfungen noch 10 Gulden bezahlen. Nachdem er als Busse  weitere 10 Batzen in den Landseckel zahlen musste,  wurde er wegen „Tag- und Nachtlehren, Unterhaltung verdächtiger und verbotener Bücher und anderer verübter bedeutender Fehler“, welche aber nicht genannt sind, mit Gefangenschaft und 2 - jähriger Verbannung bestraft. Auf sein „inständiges Bitten“ hin verlängerte das Gericht die Frist von ein paar Tagen auf zwei Wochen, damit er seine häuslichen Angelegenheiten in Ordnung bringen konnte. Die so genannte Teufelsbibel wurde eingezogen und durch den Landläufer Frischknecht verbrannt.

 

Nebst diesen drei Männern wurde auch Johannes Keller aus Speicher gebüsst, „weil über des passierten Lehrhandel mit gröblichem Lästern, Fluchen und schweren sich gegen Gott, den Nächsten und wider die Obrigkeit höchst sträflich versündigte“. Er musste zur Strafe 10 Batzen in den Landseckel und 10 Batzen in den Kirchhöreseckel seiner Gemeinde bezahlen. Aber noch weitere Personen wurden wegen „unterhaltenen Nachtlehren“ gebüsst:

 

Konrad Zürcher zahlte 10 Batzen in den Landseckel, Michael Schläpfer auf dem Eggli 20 Batzen und Michael Schläpfer in der Schwende 15 Batzen, aber mit dem Anhang, wenn weitere Klagen über sie eingingen, würden sie exemplarisch abgestraft. Im Weiteren wurden sie ermahnt, den Kirchengottesdienst fleissiger zu besuchen und danach zu trachten, „dass derselbe nach Möglichkeit niemals versäumt werde“.

 

Hauptmann Baumgartner, welcher den „Lehrhandel“ unnötigerweise an der Kirchhöre aufgegriffen hatte, wurde dafür mit 5 Batzen in den Landseckel gebüsst. Es wurde ihm verordnet, dass künftig „ solche streitbare Sachen an Kirchhören nicht mehr mögen angezogen werden“.

 

Ungefähr 100 Jahre nach dem Tod Jakob Böhme’s wurden seine Schriften gedruckt und auch in unserem Land gelesen. In der näheren Umgebung war es hauptsächlich Michael Bruderer und Hans Jakob Zellweger aus Trogen, die sich als Freunde dieser Schriften zu erkennen gaben. Sie und ihre Anhänger versäumten den öffentlichen Gottesdienst, verachteten den geistlichen Stand und erhoben die Schriften Böhme’s, welche sie gewöhnlich für ihre Privatandachten benutzten, über alle anderen Schriften, ja selbst über die Bibel. Diese Versammlungen wurden auch von Speicher aus zahlreich besucht. Um das Jahr 1750 gab es daher immer wieder Unruhen, so dass die Regierung abermals einschreiten musste. Unter den Gestraften war 1751 auch Jakob Iller aus Speicher, der sich in höchst lästerlichen Ausdrücken über das heilige Abendmahl und über die Art und Weise, wie es in der Kirche gefeiert wurde, äusserte. Er gab vor, das Abendmahl auch zu Hause hinter seinem Ofen feiern zu können, da ihn kein Gesetz zum Kirchenbesuch zwingen könnte oder seine Lehren und Versammlungen verbieten. Die Prediger seien nur „Schulerbuben“ gegen einen Michael Bruderer und was sie predigen, wäre nur zum Teil wahr und der andere nicht. Sie besässen einen schändlichen Hochmut und kauften ihre Wissenschaften mit Geld und gäben sie gegen Geld wieder her. Dies widerspreche allen Grundsätzen des Evangeliums. Gegenüber Dekan Zähner aus Trogen und dem Pfarrer in Speicher liess er sich besonders deftig aus. Als nun Iller wegen seiner Reden und Schelten vor den Rat gestellt wurde, wollte er davon nichts wissen und versuchte das ganze anders auszulegen. Der Rat und die geistigen Herren hielten sich an den Text und nicht an die Auslegung Illers und büssten ihn mit 3 Dublonen. Zudem wurde ihm eine exemplarische Strafe angedroht, falls er sich in Zukunft nicht ruhig verhalten würde.

1770 war ein Jahr mit besonders vielen sektirischen Bewegungen, weil viele Leute mystische Schriften lasen und sich dann zu den entsprechenden Lehren bekannten. Damals besuchten besonders viele Leute aus den Gemeinden Trogen, Speicher und Wald nächtliche Zusammenkünfte. Vom Gewissen getrieben meldeten sich einzelne bei Pfarrer Schlang und berichteten ihm, dass man sie im Haus von Adrian Zellweger in Trogen in einer solchen Versammlung zu schändlichen Dingen habe verleiten wollen. Schlang erstattete deshalb eine Anzeige, worauf sofort energisch eingeschritten wurde. Das Kapitel nahm Rücksicht auf diese Versammlungen und urteilte milde: „Es sollen dieselben künftig in gebührender Ordnung und nach den ehedem gemachten obrigkeitlichen Verfügungen gehalten werden, nämlich in kleiner Anzahl, neben der Zeit des öffentlichen Gottesdienstes, bei Tageszeit, bei offenen Türen und bei getrennten Geschlechtern“.

 

Am 3. Mai 1770 sprachen sich die Neu- und Alträte im „Sektiereredikt“ wesentlich schärfer aus: „Es ist unser ernstlicher Wille und Befehl, dass alle Privat- Religionsversammlungen und Zusammenkünfte, ja alle verdächtigen Nebenlehren, die wider unser Glaubensbekenntnis laufen, Tags und Nachts, sowohl als das Lesen irriger Bücher und Schriften gänzlich verboten seien“.

 

Seither gab es in Speicher noch Versammlungen des früher an der Kohlhalde, später im Bendlehn wohnhaften Alt- Landeshauptmanns Johannes Hörler, welcher deswegen aus einigen Gemeinden weggewiesenen wurde. Als er um 1830 nach Grub zog, setzten seine Anhänger ihre Erbauungsstunden fort.

Eine Zeit lang hängte sich dann ein unwissender Berner namens Traufer an dieses kleine Häuflein. Sein Gesuch um eine Niederlassungsbewilligung unterstützte diese Gruppe durch eine Petition, welche von 28 Männern und 45 Frauen unterzeichnet war. Andere Einwohner dagegen verlangten seine Wegweisung, weil er die öffentliche Ordnung und hie und da auch den ehelichen Frieden störte und deswegen bei vielen Schwermut verursache. Die Vorsteherschaft verweigerte ihm die Niederlassung und befahl ihm am 17. April 1835, bis zum Abend des nächsten Tages die Gemeinde zu verlassen. Dieser Entscheid war damit begründet, dass Verfassung nur das Predigen von geprüften Pfarrern dulden würde, seine Versammlungen Unruhe verursachen würden und die Vorsteherschaft deshalb genötigt sei, jeden wegzuweisen, der die Ordnung störe.